Ein Assistententreffen an der Jur.Fak. der TU Dresden (in schickem Uni-Neusprech: Dresden Law School) zu einem beliebigen Zeitpunkt. Ein Thema auf der Tagesordung, das dort mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder auftaucht: Täuschungsversuche bei Klausurterminen. In all ihren Varianten - Abschreiben vom Nachbarn, Abschreiben aus mitgeschmuggelten Kursunterlagen, Abschreiben von heimlich in die Gesetzestexte hineingekritzelten Hilfsanweisungen. Ein weites Feld für unzählige amüsante Anekdoten; jedenfalls für die Klausuraufsichten, vermutlich weniger für die jeweils Ertappten. Seit einiger Zeit jedoch vor allem stets mit einer Bitte aus der Studentenschaft verbunden, die auf den ersten Blick reichlich bizarr anmutet: MEHR Kontrolle. STRENGERE Kontrolle. Und überhaupt - KONTROLLE!
Wer, wie die bescheidene Verfasserin, seinerzeit den Hauptunterschied zwischen Schule und Uni in der gesteigerten Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortlichkeit gesehen hatte, reagiert hierauf zunächst verwirrt. Mehr Kontrolle?! Sollte sich dahinter ein psychologisch interessanter, für Juristen aber meist eher hinderlicher Wunsch nach dem Erwischtwerden verbergen? Oder gar eine ersehnte Reminiszenz an die Schulzeit? Nein, weit gefehlt. Die heutigen Studierenden sind ganz pragmatisch veranlagt. Aus angehenden Bakkalaurei wollen irgendwann einmal angehende Meister werden, und für diese sind die Plätze begrenzt. Wer schummelt, verbessert möglicherweise dadurch seine Abschlussnote und damit auch die Chance auf einen dieser Plätze. Die Bitte an die Klausuraufsichten lautet also nicht etwa “erwisch mich”, sondern “erwisch den da”.
Das macht die Angelegenheit freilich noch interessanter. Da sitzen also offenbar einerseits angehende Juristen im Prüfungssaal, die sich nicht an die geltenden Rechtsvorschriften halten wollen. Und direkt daneben solche, die es nicht wagen, die Einhaltung eben dieser Rechtsvorschriften einzufordern bzw. durchzusetzen. Man fragt sich fast: Warum sitzen sie dort überhaupt? Für die einen scheint Recht eher “unverbindliche Richtlinien” zu bedeuten; die anderen fürchten sich davor, es in die Hand zu nehmen (wer weiß, vielleicht beißt es?). Und dazwischen, wie stets, die schweigende Mehrheit. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir?
Oder auch nicht.
Nein, an deutschen Universitäten existiert kein allgemeiner “code of conduct” wie in den USA, den die Studenten untereinander ausknobeln, vereinbaren und durchsetzen, um bestimmte ethische Standards zu sichern. Wir benötigen auch keinen, denn es geht hier, wie so oft, nicht primär um ethische Fragen. Die ethische Seite der Geschichte ist relativ leicht mit dem beliebten “Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu” (sehr frei nach Kant) zu beantworten. Nein, es geht um Recht, und wie Studierende desselben damit umgehen. Für einen bösen (natürlich ganz hypothetischen) Beobachter könnte hier der Eindruck entstehen, Recht sei für die Betreffenden vor allem eine Frage der Autorität. Autorität, die es gefälligst durchsetzen soll, bzw. Autorität, deren allzu strengen Blick es zu vermeiden gilt. Keine Autorität - kein Recht.
Nun, eine solche Einstellung ist natürlich weit verbreitet. Man sollte es nur vermeiden, mit ihr etwa Richter werden zu wollen. Denn dann könnte es einem passieren, dass der Schrei nach Autorität irgendwann im leeren Raum verhallt und letztlich nur auf eine einzige Person zurückfällt: die, die ihn ausgestoßen hat.