In Arbeitsgemeinschaften und bei Klausurbesprechungen wird immer wieder der Hinweis gegeben: “An dieser Stelle konnte man sich kurz fassen, war unproblematisch und deshalb knapp im Urteilsstil abzuhandeln.” Dass der Urteilsstil, der zuerst ein Ergebnis feststellt und dann, wo nötig, die Begründung nachliefert, das genaue Gegenteil der Gutachtentechnik ist, wird Studierenden schon im Verlauf des ersten Semesters klar. Aber: Woher weiß man, gerade als Anfänger, wann etwas “unproblematisch” ist?
Die Frage ist schwierig zu beantworten. Denn die Entscheidung darüber, was kurz festgestellt und was ausführlich untersucht werden soll, ist zugleich auch eine Entscheidung über die Schwerpunktsetzung - in der Klausur wie auch in der Hausarbeit oder Seminararbeit. Diese Schwerpunktbildung ist ein Teil der Arbeitsleistung der Studierenden in einer schriftlichen Prüfungssituation, der aber durchaus variieren kann:
In der Klausur, die in der Regel recht spezifische Fragen aufwirft, geht es meist eher darum, den Schwerpunkt, den der Klausurersteller vorgesehen hat, zu erkennen und entsprechend zu bearbeiten - manche Repetitorien sprechen gar von “Detektivarbeit”, die hierbei zu leisten wäre. In der Seminararbeit, auf der anderen Seite, vor allem bei einem breit angelegten Thema, ist verstärkt Eigenleistung gefragt. Sehen wir uns zwei Beispiele an:
Klausur: A hat B mit einem Holzscheit auf den Kopf geschlagen, während B schlief, und dadurch seinen Tod herbeigeführt.
Die Hauptaufgabe besteht hier nicht darin, lang und breit zu erörtern, dass und warum A mit B „einen anderen Menschen“ im Sinne von § § 211, 212 StGB getötet hat – etwa noch einschließlich Ausführungen über die Natur des Menschen und dergleichen. Woran erkenne ich, dass es um diese Fragen hier nicht geht? Zum einen macht der Sachverhalt keinerlei weitere Ausführungen in dieser Hinsicht (z.B. „A hält B für einen Alien, der die Welt mit einem tödlichen Virus infizieren will“ – gäbe zumindest für den subjektiven Tatbestand etwas her).
Zum anderen enthält der kurze Satz ein ganz typisches Problem, nämlich die Frage, ob der tödliche Angriff auf einen Schlafenden eine „heimtückische“ Verhaltensweise im Sinne von § 211 II 2 StGB darstellt, die den Totschlag zum Mord qualifizieren würde (ich enthalte mich an dieser Stelle jeglicher Ausführungen zum Streit um das genaue Verhältnis zwischen Mord und Totschlag …). Hierfür muss das Merkmal der Heimtücke ausgelegt werden, die „Arg- und Wehrlosigkeit“ definiert werden, die nach hM entscheidend hierfür ist, und die Frage erörtert werden, ob ein Schlafender, der ohne Bewusstsein ist, überhaupt „arglos“ sein kann – usw. Wer dieses Problem erkennt, kann dann recht einfach darauf schließen, dass der Schwerpunkt dieses Falls auf dem „Schlafen“ liegt, nicht auf dem „Menschen“. Voraussetzung ist aber, dass einem die Problemlage tatsächlich bekannt ist, dass man sich also zumindest ein wenig vorher mit den Tötungsdelikten beschäftigt hat …
Zum anderen enthält der kurze Satz ein ganz typisches Problem, nämlich die Frage, ob der tödliche Angriff auf einen Schlafenden eine „heimtückische“ Verhaltensweise im Sinne von § 211 II 2 StGB darstellt, die den Totschlag zum Mord qualifizieren würde (ich enthalte mich an dieser Stelle jeglicher Ausführungen zum Streit um das genaue Verhältnis zwischen Mord und Totschlag …). Hierfür muss das Merkmal der Heimtücke ausgelegt werden, die „Arg- und Wehrlosigkeit“ definiert werden, die nach hM entscheidend hierfür ist, und die Frage erörtert werden, ob ein Schlafender, der ohne Bewusstsein ist, überhaupt „arglos“ sein kann – usw. Wer dieses Problem erkennt, kann dann recht einfach darauf schließen, dass der Schwerpunkt dieses Falls auf dem „Schlafen“ liegt, nicht auf dem „Menschen“. Voraussetzung ist aber, dass einem die Problemlage tatsächlich bekannt ist, dass man sich also zumindest ein wenig vorher mit den Tötungsdelikten beschäftigt hat …
Seminararbeit: Die Themenstellung lautet, „die Entwicklung der Menschenrechte im 20. Jahrhundert“ – Höchstseitenzahl: 15 Seiten mit 1/3 Rand.
(Wir wollen hier einmal absehen von der Tatsache, dass es sich um ein fürchterlich schlecht gewähltes Seminarthema handelt, zumal für diese knappe Seitenzahl …) Das typische Problem jeder Seminararbeit: ein interessantes, oft recht breit angelegtes Thema auf der einen Seite – und nur sehr wenig Platz, um es zu behandeln, auf der anderen Seite. Während in der Klausur überflüssige Ausführungen zu Unproblematischem zwar zu Punktabzug (und Zeitmangel bei den wichtigen Fragen) führen können, die Klausur aber natürlich trotzdem geschrieben werden kann, ist die Schwerpunktbildung in der Seminararbeit essentiell, ohne sie kann im Grunde noch gar nicht mit dem Schreiben angefangen werden.
Deshalb ist auch die Entwicklung einer tragfähigen Gliederung so wichtig. Wo soll man anfangen? Wo soll man aufhören? Wäre es vielleicht sinnvoll, zuerst die Situation der Menschenrechte VOR den entscheidenden Entwicklungen im 20. Jahrhundert darzustellen, um die Unterschiede erkennbar zu machen? Welches SIND die „entscheidenden Entwicklungen“? Sollte man eher generell schreiben oder vielleicht einzelne Menschenrechte als Beispiele herausgreifen? Wieviel Bezug muss auf andere völkerrechtliche Entwicklungen der Zeit genommen werden, ohne die diejenigen der Menschenrechte möglicherweise gar nicht verständlich sind? Usw. Usf. All diese und hundert weitere, ähnliche Fragen müssen entschieden werden, BEVOR die Seminararbeit begonnen wird. Und aus diesen Entscheidungen ergibt sich der gewählte Schwerpunkt (es können, wie in der Klausur, natürlich auch mehrere sein). Alles, was nicht zum ihm gehört oder für seine Darstellung jedenfalls nicht nötig ist, sollte eher knapp dargestellt werden – notfalls mit weiterführenden Fußnoten.
Alles, was in den Schwerpunktbereich fällt, sollte ausführlicher behandelt werden, umso mehr, je wichtiger es für die eingeschlagene Richtung ist. Um festzustellen, ob der gewählte Schwerpunkt überhaupt sinnvoll ist, muss er einer fortwährenden Prüfung unterzogen werden, die sich meistens ganz automatisch in der Auseinandersetzung mit der Literatur ergibt: „Hm, XY schreibt hier, das Wichtigste wäre das-und-das. Bei mir liegt der Schwerpunkt aber auf dem-und-dem. Welche Gründe hatte ich nochmal, ihn so zu setzen? Sind die auch gegenüber der Argumentation von XY noch tragfähig? Muss ich meine Zielsetzung vielleicht irgendwie erweitern oder einschränken? Fallen mir neue Argumente ein? Habe ich etwas ganz Wichtiges bisher übersehen?“ Dies ist, da gebe man sich keinen Illusionen hin, ein schwieriger, langer Prozess, der u.U. bis zur letzten Zeile des Fazits noch andauert. Er ist es aber gleichzeitig, der die Seminararbeit zur Seminararbeit macht.
Deshalb ist auch die Entwicklung einer tragfähigen Gliederung so wichtig. Wo soll man anfangen? Wo soll man aufhören? Wäre es vielleicht sinnvoll, zuerst die Situation der Menschenrechte VOR den entscheidenden Entwicklungen im 20. Jahrhundert darzustellen, um die Unterschiede erkennbar zu machen? Welches SIND die „entscheidenden Entwicklungen“? Sollte man eher generell schreiben oder vielleicht einzelne Menschenrechte als Beispiele herausgreifen? Wieviel Bezug muss auf andere völkerrechtliche Entwicklungen der Zeit genommen werden, ohne die diejenigen der Menschenrechte möglicherweise gar nicht verständlich sind? Usw. Usf. All diese und hundert weitere, ähnliche Fragen müssen entschieden werden, BEVOR die Seminararbeit begonnen wird. Und aus diesen Entscheidungen ergibt sich der gewählte Schwerpunkt (es können, wie in der Klausur, natürlich auch mehrere sein). Alles, was nicht zum ihm gehört oder für seine Darstellung jedenfalls nicht nötig ist, sollte eher knapp dargestellt werden – notfalls mit weiterführenden Fußnoten.
Alles, was in den Schwerpunktbereich fällt, sollte ausführlicher behandelt werden, umso mehr, je wichtiger es für die eingeschlagene Richtung ist. Um festzustellen, ob der gewählte Schwerpunkt überhaupt sinnvoll ist, muss er einer fortwährenden Prüfung unterzogen werden, die sich meistens ganz automatisch in der Auseinandersetzung mit der Literatur ergibt: „Hm, XY schreibt hier, das Wichtigste wäre das-und-das. Bei mir liegt der Schwerpunkt aber auf dem-und-dem. Welche Gründe hatte ich nochmal, ihn so zu setzen? Sind die auch gegenüber der Argumentation von XY noch tragfähig? Muss ich meine Zielsetzung vielleicht irgendwie erweitern oder einschränken? Fallen mir neue Argumente ein? Habe ich etwas ganz Wichtiges bisher übersehen?“ Dies ist, da gebe man sich keinen Illusionen hin, ein schwieriger, langer Prozess, der u.U. bis zur letzten Zeile des Fazits noch andauert. Er ist es aber gleichzeitig, der die Seminararbeit zur Seminararbeit macht.
Wir können aus den beiden Beispielen folgendes festhalten: Die Beurteilung dessen, was kurz und was lang dargestellt werden muss (bzw. im Urteils- und im Gutachtenstil, obwohl es natürlich auch „knappe Gutachten“ gibt), hängt von der Schwerpunktbildung ab. Der Schwerpunkt ist in einer Klausur eher vorgegeben (wenn auch vielleicht versteckt), in einer Seminararbeit muss er häufig selbst erarbeitet werden. In beiden Fällen ist aber vor allem eins notwendig: die Kenntnis der Materie, um die es geht. Je mehr ich von einem Thema weiß, je mehr Auseinandersetzungen ich darüber gelesen oder gehört oder vielleicht auch selbst geführt habe, desto leichter fällt es mir zu erkennen, welches die schwerwiegenden Probleme sind.
Also: Lesen! Diskutieren! Nachdenken! Je mehr, desto besser.