Sonntag, 16. Juni 2013

8848 Meter - jeder stirbt für sich allein?

 Eine Geschichte, die sich beinahe jedes Jahr wiederholt, immer zur gleichen Zeit. Himalaya-Saison. Gipfelstürmer und Schlagzeilen. Und immer wieder die gleiche Diskussion:

Ein Mann liegt im Sterben.  Er kann sich nicht mehr bewegen, nicht mehr sprechen. Atmet nur noch mühsam. Es ist eiskalt, weit unter minus 20 Grad. Im Frost ist das Gesicht des Mannes schwarz angelaufen.
Unter einem Felsvorsprung hat er sich zusammengekauert, dicht neben einem vielbegangenen Weg. Vielbegangen auch an diesem Tag: dreißig, vierzig Personen, Männer und Frauen. Kaum jemand bleibt stehen. Ein oder zwei Männer halten an, versuchen, den Sterbenden aufzurichten, ihm zu trinken zu geben; es nützt nichts, er schafft es nicht zurück auf die eigenen Beine. Sie geben auf, gehen weiter, und irgendwann, unbemerkt, wird aus dem Sterbenden ein Toter.

§ 323 c StGB, Unterlassene Hilfeleistung: “Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.”

Fall gelöst? Ja - und nein, denn wie es die Höhenangabe im Titel verrät: Der Mann stirbt nicht in einem Park oder neben einem Wanderweg. Er stirbt auf dem Gipfelanstieg zum Mount Everest, in der sog. “Todeszone”. Die Kälte ist hier oben so gewaltig, der Sauerstoffgehalt in der Luft so niedrig, dass der Körper sich selbst verzehrt. Viele Menschen sterben hier, an Erschöpfung, Unterkühlung, Ödemen in Hirn oder Lunge, oder sie stürzen sich zu Tode. Ihre Leichen verschwinden in Gletscherspalten oder bleiben liegen, wo sie hingefallen sind. Niemand bringt die Kraft für eine Besteigung auf, nur, um einen Toten zu bergen.
Und für einen Sterbenden?

Als der Mathematiklehrer David Sharp 2006 dort oben starb, lag schon eine andere, ältere Leiche hinter ihm, die, nach der die kleine Höhlung von Bergsteigern benannt wurde: “Green Boots’ Cave”. Auch “Green Boots” schaffte es nicht aus eigener Kraft zurück nach unten, in Sicherheit. Und auch für ihn wagte niemand, sein eigenes Leben zu riskieren. Heute kennt kaum jemand auch nur seinen richtigen Namen. Seine “grünen Stiefel” sind alles, woran man sich erinnert. Und man steigt an ihnen vorbei. Wieder und wieder. In jeder neuen Saison.

Machen 8848 Meter einen Unterschied? § 323 c StGB scheint die Frage auf den ersten Blick zu bejahen. Das deutsche Strafrecht will niemanden zwingen, sein Leben, seine Gesundheit für die Rettung eines anderen aufs Spiel zu setzen. Bergsteiger, die in diesen Höhen anhalten, sei es auch nur, um einem Verletzten eine Stunde Gesellschaft zu leisten, riskieren Unterkühlung, Erfrierungen, Sauerstoffmangelschäden. Eindeutig eine “erhebliche eigene Gefahr”.

Aber - ist es wirklich so einfach? Jeder trägt sein eigenes Risiko allein? Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, im Zweifelsfall im Angesicht der anderen? Zählt tatsächlich nur die Abwägung, “mein Leben gegen seins", “meine Gefahr gegen seine”? Kann man in gefährlichen Extremsituationen an jedem im Not Geratenen guten Gewissens und rechtlich zulässig vorübergehen, um die Gefahr für sich selbst nicht noch zu erhöhen?
Wieviel Moral existiert auf 8848 Metern? Und wieviel Recht?