Samstag, 16. Juni 2012

Hundert Graustufen statt schwarzweiß - warum "vertretbar" und "richtig" nicht dasselbe sind

Die Rechtswissenschaft hat, wie alle anderen Wissenschaften auch, ihre eigene Fachsprache. Das gilt nicht nur inhaltlich, sondern auch für formelle Bereiche, wie etwa die Bewertung von Klausuren. Hier existiert, neben der berühmten Zwischen-Notenstufe “vollbefriedigend” (über deren Sinn oder Unsinn sich durchaus streiten lässt), vor allem noch ein weiterer Begriff, der für Nichtjuristen bzw. Studienanfänger fremd ist: das “Vertretbar” am Rand oder am Ende einer Klausur, von Korrektorenhand mehr oder minder lesbar hingeschrieben. Es hat noch verschiedene Varianten, etwa “gut vertretbar” oder, am anderen Ende der Skala, “schwer” oder “kaum vertretbar”. Doch was bedeutet es, und wieso hängen Korrektoren scheinbar so sehr an diesem seltsam blassen, bürokratisch anmutenden Wörtchen?

Dieses kleine „vertretbar“ ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Es bedeutet in etwa, dass derjenige, dessen Klausur mit diesem Wort verziert wird, sich an der betreffenden Stelle eine Meinung zu eigen gemacht – sie „vertreten“ – hat, die juristisch schlüssig begründbar ist.

Warum dann nicht „richtig“ statt „vertretbar“? Nun, die Rechtswissenschaft ist keine exakte Wissenschaft, wie etwa die Mathematik (obwohl diese, Gerüchten zufolge, in den wirklich interessanten Bereichen auch zu gewissen Unklarheiten neigen soll …). Eine – ordnungsgemäß durchgeführte – juristische Argumentation lässt sich in aller Regel ebensowenig mit „richtig“ oder „falsch“ bewerten wie etwa ein Deutschaufsatz oder eine philosophische Erörterung. In einem Meinungsstreit haben meist alle vertretenen Meinungen sowohl gute juristische Argumente für als auch gegen sich; deshalb existiert der Meinungsstreit ja überhaupt. Und deshalb geht es bei der Darstellung von Streitständen (s. hierzu auch die entsprechenden Beiträge im Blog) auch weniger um das Ergebnis, dass der Darsteller wählt, sondern um den Weg dahin, die nachvollziehbare, juristisch schlüssige Begründung. Ist sie vorhanden, ist das mit ihr gefundene Ergebnis „vertretbar“, möglicherweise sogar „gut vertretbar“. Lässt sich das Ergebnis dagegen nur an einem dünnen Fädchen, „um Haaresbreite“, sozusagen, auf die gewählte Weise begründen, kann stattdessen ein „schwer vertretbar“ oder ähnliches herauskommen. Dabei ist es jedenfalls grundsätzlich gleichgültig, ob es sich um eine „herrschende“ oder eine „Mindermeinung“ oder sogar um ein ganz neues Gedankenkonstrukt handelt.

Natürlich freut man sich mehr über ein „gut“, „sehr gelungen“ oder sogar „schön“, und natürlich kann ein „vertretbar“, je nach Zusammenhang, auch eher ein „na, gerade noch so vertretbar“ oder ein „gefällt mir nicht, ist aber irgendwie vertretbar“ bedeuten. Das ist zum Teil auch vom Korrektor abhängig. Es gibt eher überschwängliche Persönlichkeiten, die gerne und mit vielen Ausrufezeichen loben – bei ihnen kann ein „vertretbar“ schon beinahe trübselig wirken. Bei anderen kann es dagegen schon das höchste der Gefühle ausdrücken. Welcher Art der Korrektor jeweils zuneigt, lässt sich am Ende nur in der Zusammenschau mit der Endnote der Klausur (oder Hausarbeit) feststellen.