Samstag, 16. Juni 2012

Die "famous four" und ihre Tücken

Der Gutachtenstil – oder die Gutachtentechnik – besteht aus vier Schritten, den „famous four“, wie man sie nennen könnte, die im Verlauf einer Fallprüfung immer wieder und wieder vollzogen werden müssen. Diese vier Schritte finden sich in allen Methodik-Lehrbüchern, in unterschiedlichen Varianten – je nachdem, was in welchen Schritt im Einzelnen eingeordnet werden soll. Das gängigste Schema sieht so aus:

Obersatz oder Hypothese

Definition – Voraussetzungen und Auslegung

Subsumtion

Ergebnis

Diese vier sind der Pfad zum Wasserloch, der ausgetretene, aber sichere Weg zu einer sauberen juristischen Fallprüfung – und übrigens nicht nur dazu. Auch bei nichtjuristischen Fragen empfiehlt es sich durchaus, vor der Antwort die eine oder andere Überlegung anzustellen. Ins Alltägliche übersetzt, könnte dann der Gutachtenaufbau ungefähr folgendermaßen aussehen:

Um welche Frage geht es eigentlich?

Welche Voraussetzungen brauche ich, um die Frage beantworten zu können, und was genau bedeuten diese?

Wie passt das alles mit meiner konkreten Situation zusammen?

Und was kommt am Ende raus?


Das alles sind Fragen, die man sich im Grunde täglich auf die eine oder andere Art stellt, ohne es wirklich zu bemerken. Im konkreten Beispiel:

Sachverhalt:

Ich habe keine Lust mehr, nach harter Uni-Arbeit abends noch das ganze Geschirr vom Vortag abwaschen zu müssen. Außerdem verbraucht man hierbei viel zu viel Wasser und Spülmittel, es ist also auch nicht umweltschonend, was mir wichtig ist. Auf meinem Sparkonto habe ich 200,- Euro.

Obersatz 
Die Frage ist, ob ich mir eine Spülmaschine kaufen sollte. (oder als Hypothese: Ich könnte mir eine Spülmaschine kaufen.)

Voraussetzungen und Auslegung

Das hängt vor allem davon ab, ob ich genug Geld dafür habe.

Was „genug Geld“ ist, hängt wiederum davon ab, wieviel eine Spülmaschine kostet.

Was eine Spülmaschine kostet, unterscheidet sich u.a. danach, was sie leistet, welchen Wasserverbrauch sie hat, welche Zusatzfunktionen, ob es ein Markengerät ist, ob es ein Sonderangebot gibt, usw.

Danach kostet eine Spülmaschine im mittleren Preisfeld, mit niedrigem Energie- und Wasserverbrauch vielleicht um die 500,- Euro. Eine gebrauchte, ältere Spülmaschine gibt es schon für 150,- Euro. Diese hat allerdings schlechte Energiewerte und verbraucht doppelt so viel Wasser wie das Handabspülen.

Subsumtion

Ich habe nur 200,- Euro, die ich bezahlen könnte. Eine neue Spülmaschine kann ich mir damit nicht leisten. Eine gebrauchte könnte ich bezahlen, sie wäre allerdings umweltschädlicher als das Spülen mit der Hand. Umweltschutz ist mir wichtig.

Ergebnis

Also kaufe ich mir keine Spülmaschine (sondern quäle mich weiter abends herum, bis es mir wirklich reicht und ich bei Onkel und Tante genug Geld zusammengebettelt habe …;-)).

Die Gutachtentechnik ist, wie man hieran sieht, nichts wirklich Fremdes. Man benutzt sie täglich, immer dort, wo etwas kompliziertere Fragestellungen auftauchen – jedenfalls dann, wenn man sich nicht von Bauchgefühlen leiten lässt. Viele dieser Gedankenschritte laufen dabei wahrscheinlich so fix ab, dass man sich nicht einmal bewusst ist, tatsächlich nachgedacht zu haben. Diesen Luxus des Nichtwissens kann man sich als Jurist allerdings nicht leisten. Man muss sich im Gegenteil die einzelnen notwendigen Stationen der eigenen Überlegungen immer wieder deutlich machen, vor allem als Anfänger.

Trotzdem – oder auch dann – sind die „famous four“ kein Allheilmittel. Zum einen nützt der schönste Aufbau nichts, wenn es am Inhalt fehlt – wenn ich z.B. zwar weiß, dass es im Fall irgendwie um einen Kaufvertrag geht, aber keine Ahnung habe, wo dieser geregelt ist und die Voraussetzungen für seine Wirksamkeit stehen. Zum anderen laufen die Schritte in der Wirklichkeit der Fallprüfung längst nicht so ordentlich hintereinander her, wie es im Schema aussieht. Oft greifen sie ineinander, es müssen Unterprüfungen eingefügt, „eingeschachtelt“ werden; die Auslegung eines Begriffs führt zu zwei weiteren Begriffen, die wiederum ausgelegt werden müssen, usw. Dann gibt es da noch die nützlichen Hinweise z.B. von AG-Leitern, die in etwa lauten: „Das müssen Sie hier aber nicht ausführlich prüfen, ist unproblematisch; können Sie einfach im Urteilsstil feststellen.“ Unproblematisch? Woher weiß man das denn? Vor allem, wenn man im 1. Semester ist und alles, einfach alles problematisch aussieht?

Es ist deshalb wichtig, sich nicht nur die einzelnen Prüfungsschritte gebetsartig einzubimsen, sondern auch zu verstehen, wofür sie da sind – was sie bewirken sollen – und wie sie durchgeführt werden.Und über all dem eben nicht zu vergessen: Die Gedankenschritte, die sie sozusagen nachzeichnen, sind nichts eigentlich Fremdes, sondern etwas, das man im Alltag ganz automatisch tut.