Donnerstag, 23. Juni 2011

Torture Made in USA - Juristen und Verantwortung

Vor ein paar Tagen lief auf arte der Bericht "Torture Made in USA", der sich mit den Hintergründen der amerikanischen Folterskandale im Irak und Guantanamo Bay auseinandersetzt. Das Ganze liegt inzwischen ja ein paar Jahre zurück, die Welt beschäftigt sich längst mit neuen Problemen. Die öffentlichen Diskussionen, auch in Deutschland, um Verhörmethoden, Geheimgefängnisse und "torture by proxy" mit Zwischenstationen auch auf deutschem Staatsgebiet, sind mehr oder weniger zum Erliegen gekommen. Erst recht, seit viele Menschen genügend Anlässe sehen, sich um ihr eigenes, ganz konkretes physisches Wohlergehen zu sorgen: Stichworte Fukushima und EHEC, um nur die neuesten zu nennen. Man gewinnt so leicht den Eindruck, "diese Foltersachen" wären inzwischen irgendwie geklärt, untersucht, ausreichend behandelt und zu den Akten gelegt. Nichts - und daran erinnert der Bericht - nichts ist weniger der Fall. 

Fokus für Juristen ist vor allem die Figur des John Yoo, Berkeley-Jura-Professor, Rechtsanwalt, von 2001 bis 2003 Beamter im US-Department of Justice's Office of Legal Counsel (OLC). Es waren u.a. seine juristischen Einschätzungen zum Umgang mit "feindlichen Kombattanten" oder "unrechtmäßigen Kombattanten", die damals den rechtlichen Boden für das Vorgehen der Bush-Regierung bereiteten. Seine Memos und Briefe, inzwischen leicht im Internet aufzutreiben, führten später zu Anhörungen im US-Kongress; auch die deutsche Generalbundesanwaltschaft beschäftigte sich auf Betreiben des Rechtsanwalts Wolfgang Kahleck kurzzeitig mit John Yoo. Greifbare Ergebnisse: bislang keine. Noch zu erwartende greifbare Ergebnisse, in den USA, in Deutschland oder anderswo: ???

John Yoo lehrt weiterhin in Berkeley, unter anderem amerikanisches Verfassungsrecht und Völkerrecht, veröffentlicht Monographien wie War by Other Means: An Insider's Account of the War on Terror (Grove/Atlantic 2006). Die Rechtsansichten, die er vertritt, grassieren längst auch in juristischen Fachpublikationen. So sieht sich z.B. die Wissenschaft im Bereich Humanitäres Völkerrecht gezwungen, über den "unrechtmäßigen Kombattanten" zu diskutieren, der angeblich zwischen allen Rechtsregimen stehen und so weder als Kombattant noch als Zivilist, weder vom Humanitären Völkerrecht noch von grundlegenden Menschenrechten, geschützt sein soll. Eine uralte Rechtsfigur, übrigens, die aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammt und sich auf gegnerische Spione bezog. Längst überwunden geglaubte Fragestellungen tauchen so aus den Nebeln der Zeit wieder auf und präsentieren sich im scheinbar modernen Gewand.

Für junge Juristen, gerade erst auf dem Weg ins Berufsleben, stellt sich hier vor allem eine Frage: Wenn es doch in der Rechtswissenschaft ohnehin kaum jemals ein klares "Richtig" oder "Falsch" gibt - wenn im Prinzip alles "vertretbar" ist, solange nur sauber begründet und hergeleitet - welche Verantwortung trägt dann ein Jurist, der Gutachten abgibt, die zu bestimmten Vorgehensweisen in der realen Welt führen? Oder, anders gefragt: Wenn die Ergebnisse einer rechtlichen Einschätzung mehr oder weniger beliebig sind, was spricht dann dagegen, Einschätzungen abzugeben, die beispielsweise bestimmten politischen Wünschen entsprechen? Zumal, wenn der, der diese Wünsche äußert, der eigene Arbeitgeber ist?

Um auf das Humanitäre Völkerrecht zurückzukommen: Es ist eben immer alles Auslegungssache, nicht wahr? Nirgendwo steht explizit und über jeden Zweifel erhaben geschrieben, dass das Regime des Humanitären Völkerrechts keine "Lücken" zwischen Kombattanten- und Zivilistenstatus enthält. Man kann dies zwar aus verschiedenen Bestimmungen unproblematisch herleiten, und die überwiegende Meinung in der Literatur tut das auch weiterhin. Aber natürlich ist niemand an eine bestimmte Auslegung gebunden, nur, weil sie immer so stattgefunden hat. Und selbst die deutlichsten Bestimmungen lassen sich in der Regel auch irgendwie anders interpretieren.

Auch die Folter ist ein wunderbares Beispiel dafür. Deutschland hat Diskussionen um ihre Definition zuletzt anhand des Falls Gaefgen erlebt (hier v.a. bezogen auf Art. 1 I GG). Die UN-Antifolterkonvention beschreibt Folter als

jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind. [Art. 1 I].

Alles klar? Oder doch irgendwie nicht? Mal ganz platt gefragt: Was sind "große" Schmerzen und Leiden? Und wenn nur solche "großen Schmerzen oder Leiden" als Folter unzulässig sind, die sich nicht "lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind" - nun, wie wär's, wenn man einfach die nötigen Gesetze erlässt? Wenn's doch dem größeren Wohle dient - irgendwie? Und schließlich: Besteht denn die Aufgabe des Juristen nicht ausschließlich darin, die rein rechtlichen Möglichkeiten zu prüfen? Was sonst sollte man noch von ihm verlangen können? Und wenn die rechtlichen Möglichkeiten gegeben sind, beispielsweise entsprechende Gesetze einzuführen - welche Verantwortung sollte dann den Juristen treffen, der diese Möglichkeiten ausfindig gemacht hat? 

Der Jurist macht nur seine Arbeit. Er ist nur ein kleiner (oder größerer) Beamter. Er erlässt die politischen Leitlinien nicht, er orientiert sich ggf. nur an ihnen. Woran auch sonst, wenn Vertragsbestimmungen und Gesetze sich auf "vertretbare" Weise in fast jede beliebige Richtung biegen lassen? An den ethischen Grundsätzen, die irgendwann, in grauer Vorzeit vielleicht, einmal Grundlage für jene Normen, jene Vertragsbestimmungen waren? Stehen ja nicht da. Höchstens in der Präambel oder irgendwelchen Gründen, aber wer liest die schon. Sind ja nicht justiziabel. Prüfung beendet, Pluszeichen dahinter. Abhaken, nächster Fall.

Ein recht bekannter Beamter und Soldat hat einmal gesagt:

"Meine Schuld [und man müsste hier ergänzen: meine einzige Schuld] ist mein Gehorsam. Meine Unterwerfung unter Dienstpflicht und Kriegsdienstverpflichtung, unter Fahneneid und Diensteid. Die Führerschicht, zu der ich nicht gehörte, hat die Befehle gegeben."

Nein, John Yoo war es nicht (obwohl ein anderer Verantwortlicher der US-Regierung in den Kongressanhörungen durchaus zu dieser Argumentationslinie Zuflucht nahm und sich selbst als "kleinen Beamten" beschrieb). Es war Adolf Eichmann. Sein Prozess in Jerusalem feiert gerade Jubiläum; vielleicht eine gute Gelegenheit, nochmal einiges nachzulesen ... Aber natürlich ist John Yoo nicht Adolf Eichmann. John Yoo ist Jurist. Er ist kein Massenmörder. Er hat niemanden getötet, er hat auch die Praktiken, die er für möglich hält, auf niemanden persönlich angewendet. Im übrigen hätte er, um zu einer solchen Aussage zu kommen, ja zuerst einmal etwas wie Schuld empfinden - oder vorgeben - müssen. Aber es trifft ihn ja keine, nicht wahr? Er hat nur seine Arbeit gemacht. Er hat getan, was Juristen tun, Möglichkeiten gesucht und gefunden. Und abgehakt - und nächster Fall.

Der Jurist ist es, der sagt, was richtig und was falsch sein soll. Aber - wer sagt es dem Juristen?

Donnerstag, 16. Juni 2011

Ist das ein Mensch oder kann das weg?

“Es geht”, sagte im November vergangenen Jahres CDU-Generalsekretär Gröhe in Karlsruhe, “um die unantastbare Würde jedes Menschen. Wo es um ihren Schutz geht, sind wir gefordert” (Quelle: www.zeit.de).

Stilistisch vielleicht nicht unbedingt unantastbar, inhaltlich aber jedenfalls höchst bedeutsam - die Menschenwürde, wieder einmal, die zur Debatte steht, aktuell bei der Frage um die Möglichkeiten der Gendiagnostik bei in vitro erzeugten Embryonen.  Die Menschenwürde, die ewige Verdächtige bei einer Vielzahl von schwierigen Rechtsfragen; die leicht Anzukratzende und gleichzeitig heil und hehr über allem Schwebende, die “nicht interpretierte These” ohne Beweismöglichkeit; der sanft leuchtende, ungreifbare Schimmer der Humanität hinter den scharfen Normenzacken. Was verheißt sie uns nicht alles! Einen letztgültigen, universal anwendbaren Bewertungsmaßstab für die ganz großen Rechtsprobleme, eine unverrückbare Verteidigungslinie gegenüber dem machtgierigen Staatsapparat - eine gemeinsame, von allen Menschen irgendwo tief drinnen empfundene ethische Richtschnur, an der wir uns in schlimmen Zeiten alle ausrichten können. Wie gut könnten wir sein! Wenn wir sie nur endlich verstünden.

Wenn wir nur endlich herausfinden könnten, was sie uns bedeuten will, diese seltsame Konstruktion, die zwischen allen Stühlen zu sitzen scheint und dennoch überall den Fuß in der Tür hat - in Philosophie, Recht, Biologie, Soziologie, Politikwissenschaft.  Die in sich alles verbindet, verknotet, und dabei ein so eigentümlich formloses Äußeres angenommen hat, dass wir sie nur noch im Negativen, in ihrer Verletzung, erfassen können. Nun soll sie also darüber entscheiden, wie mit künstlich erzeugten Embryonen zu verfahren ist. Ob wir diesmal verstehen werden, was sie uns zu diesem Thema sagen will?

Eine eigenartige Konstellation, die sie uns hier zu präsentieren scheint, jedenfalls aus der Sicht einiger Diskuttanten: Eltern gegen (werdendes) Kind. Das Leid, ein vielleicht schwerst behindertes Kind zu bekommen und großziehen zu müssen, gegen das Nichtgeborenwerden, das Ausgesondertsein, Weggeworfenwerden. Oder spielt sich der Konflikt im entstehenden Wesen selbst ab? Ein Recht, nicht bewusst mit schwersten Schädigungen in ein Leben voller Qualen gezwungen zu werden, gegen ein Recht, geboren zu werden, zu wachsen, zu lernen, zu lieben, zu träumen …? Oder ist alles noch viel komplizierter?
Für uns Deutsche allemal. Denn es spielt ein Wort in dieser Diskussion eine bedeutende Rolle, das wir fürchten und meiden gelernt haben: Selektion. Dieses Wort trieft von Gift, stinkt nach Rauch. Zieht die entsetzlichsten Assoziationen nach sich, die tödliche Idee vom “lebensunwerten Leben”, die sich hier vielleicht wieder einmal nur zum Schein in humanitäre Gewänder gehüllt hat. Wir halten die Menschenwürde hoch wie einen Schutzschild dagegen, führen sie wie eine abwehrstärkende Medizin im Munde. Und zwar auf der einen wie auf der anderen Seite der Diskussion.

Wird sie uns retten? Nein - und ja. Die bloße Argumentation mit der Menschenwürde lässt sich in viele Richtungen wenden. Da wir ihren genauen Inhalt nicht kennen, kann sie sowohl “für” als auch “gegen” als auch alles Mögliche dazwischen bedeuten; immer ganz nach Standpunkt. Sie wird uns nicht davor bewahren, Entscheidungen treffen zu müssen. Entscheidungen, für die der Mensch, scheint mir, nicht wirklich ausgelegt ist. Die aber trotzdem getroffen werden müssen, denn: Wir wissen zu viel. Und dieses Wissen lässt uns nicht mehr in seeliger, gottergebener, mittelalterlicher Ruhe. Wir werden uns auch durch diese Diskussion hindurchquälen müssen, ohne Richtschnur, ohne Leitfaden; denn den Leitfaden entwickeln wir ja erst selbst, immer wieder, immer weiter, auf genau diesem Weg. Und das ist es vielleicht auch, was die Menschenwürde für uns tun kann: Sie kann dafür sorgen, dass wir diesen Weg beschreiten. Dass wir nicht ausweichen, uns ins Dickicht schlagen, die Augen verschließen. Dass wir sie aushalten, die Ungewissheit, die Zweifel, die Furcht. Dass wir weiter gehen, immer weiter. Ohne auch nur zu ahnen, was uns am Ende erwartet - ob es überhaupt ein Ende gibt.

Reicht das aus? Es muss. Denn mehr stellt sie uns im Grunde nicht an Hilfe zur Verfügung. Und mehr verspricht sie auch nicht. Die Menschenwürde ist, was wir zur Menschenwürde machen. Und auch das muss man aushalten können.

Wer braucht schon Ethik, wenn er Paragraphen hat ...?

Vor einer Weile ein interessanter kleiner Artikel bei Spiegel online: Business Schools wollen nach dem Finanzdesaster verstärkt Ethik-Kurse für ihre Studierenden einführen. Selbst einen “Manager-Eid” soll es schon geben, der u.a. auf die Wahrung der Menschenrechte verpflichtet.

Eher putzig, so auf den ersten Blick. Man spürt wohl einen gewissen Handlungsdruck, der abermehr von außen als von innen zu kommen scheint.
Die Juristen sind bisher noch nicht so sehr ins Fadenkreuz geraten, was ethisches Verhalten im Berufsalltag betrifft. Dabei ist es nicht gerade so, dass wir uns vertiefter damit befassen würden, als es die Kollegen Wirtschaftler tun. Die meisten erinnern sich wahrscheinlich eher vage an Grundlagenvorlesungen zum Thema Rechtsphilosophie und / oder Rechtsgeschichte, in denen gelegentlich von den Beziehungen zwischen Recht und Moral, Recht und Gerechtigkeit die Rede war … Näher beschäftigen musste man sich damit in der Regel nicht. Wer braucht schon Ethik, wenn er Paragraphen hat, die alles Relevante ja wunderbar in mundgerechte Häppchen zerteilen?  Und da nicht nur jeder Jurist, sondern auch jeder Laie weiß: Recht ist nicht gleich Gerechtigkeit - weshalb unnütze Überlegungen anstellen?

Andererseits …  Manchmal sind sie vielleicht nicht ganz so unnütz. Manchmal gibt es Situationen, ob in der Vorlesung oder im echten Leben, in denen nach erfolgreicher Fallbearbeitung ein vages, seltsam schales Gefühl zurückbleibt. Natürlich, die Rechtslage ist klar, die Paragraphenkette lücken- und makellos. Aber irgendwie … an irgendeiner Stelle … ist vielleicht doch nicht alles angesprochen worden, was ansprechenswert gewesen wäre. Weil es nicht im Prüfungsschema vorkam. Weil es nicht auf der Kurzkarteikarte stand, oder im Praxiskommentar. Das Gefühl bleibt vage, nicht recht greifbar - nirgendwo ein Hinweis, ein Paragraphenschnörkel, an dem man es aufhängen könnte - und was aus den Grundlagenvorlesungen hängengeblieben ist, ist vor allem das Wort “Digestenexegese”, das einen leichten Gruselschauer erzeugt und sonst nicht viel. Unbehaglich, die Situation, in der einen der innere Laie mit großen Augen anstarrt und murmelt: “Aber das … das ist doch nicht gerecht …” Am Ende muss man ihm eins auf die Nase geben und sich zusammenreißen. Der nächste Fall, die nächste Übungsstunde warten schon.

Nur eine kleine Erinnerung: Nicht alle, die große Summen hin und her bewegen und Weltwirtschaften damit in Abgründe schieben, sind Wirtschaftsmenschen. Konzerne haben Juristen. Banken haben Juristen. Juristen sitzen in Geschäftsführungen und Vorständen. Eigentlich eine gute Position, um bei Gelegenheit auf gewisse ethische Problematiken hinzuweisen, die sich vielleicht nicht unmittelbar aus den Gesetzen herleiten lassen, trotzdem aber nicht ganz irrelevant sein könnten … Aber leider, das einzige, was einfällt, ist “Digestenexegese” (*schauder*). Und weiter zum nächsten Fall.

Das Regenwurm-Dilemma. Tücken der Ethik im Hausgebrauch

Eigentlich ist alles ganz einfach - in der Werbung wenigstens. Da windet sich in einem Spot ein Regenwurm auf einem Bürgersteig zwischen unachtsamen Menschenbeinen, während der Regen hinunter strömt und der arme Wurm, ganz im Gegensatz zu seinem Namen, nicht glücklich herumschwimmt, sondern mangels Flossen verzweifelt gegen das Ertrinken ankämpft. Nur ein einziges Menschenwesen, ein kleiner Junge im gelben Südwester, sieht seine Pein, nimmt ihn behutsam in die Hand und setzt ihn im Gras ab, wo er glücklich zwischen den Halmen verschwindet. So simpel, suggeriert uns der Spot, ist angewandte Ethik: Ein Mit-Wesen leidet, man kümmert sich. Die vorbeihastenden Erwachsenen, auf Karriere und persönliches Vorwärtskommen bedacht, haben diesen einfachen Grundsatz vergessen; nur das unschuldige Kind tut ohne Nachdenken das Richtige und rettet den ebenso unschuldigen Wurm.

Simpel, in der Tat.  Vielleicht ein wenig zu simpel.

Die Verfasserin kennt einige Kinder im ähnlichen Alter; sie ist sogar selbst mal eines gewesen. Damals, so berichten die Familienlegenden, war es ihr Schönstes, eben solche Regenwürmer aufzusammeln und sie - die virtuelle Feder sträubt sich, es niederzuschreiben - anzusabbern oder gar aufzuessen. Von unschuldiger, sozusagen angeborener “Naturethik” leider keine Spur. Ein Verständnis des Kindes als grundlegend gutes, moralisch einwandfreies Wesen scheitert darüber hinaus an all den fliegenbeine-ausreißenden, sich-gegenseitig-mit-bauklötzen-schlagenden, flunkernden und schubbsenden Anschauungsobjekten, die durch die Kindergartenlande tollen. Unschuldig sind sie, ja; aber nur deshalb, weil sie es nicht besser wissen.

Der Erwachsene weiß es besser. Leider. Und weil er es besser weiß, kommt er bei dem Versuch der unbefangenen Anwendung von ethischen Grundsätzen in das, was hier als das “Regenwurm-Dilemma” bezeichnet werden soll. Um im obigen Bild des Werbespots zu bleiben: Gesetzt den Fall, man entdeckte tatsächlich zwischen geschäftigen Beinen einen solchen armen ertrinkenden Wurm. Was denkt man als erstes? “Der arme Wurm”? Oder vielleicht doch eher “Meine Güte, wie eklig …”? Die Gemeinsamkeiten zwischen Würmern und Menschen sind, zumindest von Menschenwarte aus, praktisch verschwindend gering. Ja, wenn es ein niedliches Kätzchen wäre, was da nass und frierend auf dem Gehsteig hockte … Aber nein, es ist ein Wurm, ein glibbschiger, sich windender Wurm ohne weiches Fell und große Kulleraugen (irgendwie sogar ganz ohne Augen, wie es aussieht). Und nun soll man für diesen Wurm, der womöglich nicht einmal Schmerzen empfinden kann, sich in den Regen knien? Vorher wohl noch nach einem passenden Blatt oder Taschentuch suchen, damit man ihn nicht anfassen muss? Tausend verwundert-amüsierte Blicke im Nacken brennen fühlen, während man im Business-Kostüm auf dem Bürgersteig herumkraucht? Ziemlich viel verlangt an einem verregneten Montagmorgen …

Aber in der Wirklichkeit kommt es noch schlimmer; es kommt immer schlimmer in der Wirklichkeit. In der Wirklichkeit liegen nach einem heftigen Regenguss Dutzende, nein, Hunderte verzweifelte Regenwürmer auf den Wegen. Regenwürmer, die entweder im Wasser ertrinken oder nachher, wenn die Sonne rauskommt, verglühen, zertreten werden, von Amseln in Stücke gerissen, weil sie es nicht rechtzeitig zurück ins Gras schaffen. Soll man sie ALLE retten?! Den ganzen Weg zwischen, sagen wir, der Uni-Bibliothek und dem Hörsaal auf den Knien rutschend zurücklegen? Oder reicht es, wenn man einen rettet, sozusagen pro forma, als Ausweis der guten Menschlichkeit? Oder nur die, die noch “eine Chance haben” (woran auch immer man das bei Regenwürmern festmachen will)? Oder gerade die schon Todmüden, Geschwächten? Gibt es einen Mittelweg oder eine Art höhere Prozentrechnung, wie: Pro gerettetem Wurm steigt der eigene ethische Wert um soundsoviel Punkte? Wem gegenüber eigentlich? Mir selbst? Oder der Gesellschaft oder dem, der vielleicht in den Wolken verborgen darüber thront? Oder interessiert es letztlich nur einen - den Wurm? Den, der gerettet wird. Oder den, der liegen bleibt.

Es gibt immer welche, die liegen bleiben. Nicht nur Würmer. Und nicht nur niedliche Kätzchen.  Ganz gleich, wie weit ich meinen persönlichen Verantwortlichkeits-Radius ausdehne. Ganz gleich, wie lange ich auf Knien durch den Regen rutsche. Darf ich da nicht abwägen, wenigstens ein kleines bisschen? Zum Beispiel … meinen Peinlichkeitsfaktor gegen den Lebenswert eines halb zertretenen Regenwurms? Oder darf ich nicht? Muss ich mein ganzes Leben damit verbringen, über den bildlichen Bürgersteig zu krauchen? Oder reicht es, wenn ich leise “arme Würmer” vor mich hinmurmele? Oder - darf ich vielleicht sogar einfach mal wegsehen?
Ich kann ein “guter”, ein sich ethisch verhaltender, beinahe schon vorbildhafter Mensch sein, wenn ich mich um alle Regenwürmer dieser Welt kümmere. Aber kann ich dann noch “ich” sein? Wann hätte ich dann noch die Zeit dafür?

Und übrigens - wer kümmert sich eigentlich um mich, wenn ich am Ertrinken bin?

Das kommt darauf an, sagt der Jurist. Zum Beispiel darauf, ob du ein Regenwurm bist. Und ob der, der dich ertrinken sieht, Regenwürmer mag. Oder auch nicht …

Feuervogels lange Schatten. “Erinnern und handeln” zur Bombardierung Dresdens 1945 - aber wie?

Es gibt Tage, da rückt die Vergangenheit ungewohnt nahe. Tage, an denen ein Blick aus dem Fenster eine Verbindung knüpfen kann, über Jahre, Jahrzehnte hinweg. Die Wintersonne glänzt freundlich auf der Schale des Frühstückseis, der Kaffee duftet wie ein Gruß aus der Kindheit; aber unten auf der Straße sammeln sich Menschen, und hinter ihnen tun sich schwarze Löcher auf im Boden der Zeit. Löcher, die sonst nicht zu sehen sind. Die direkt hinunter führen in dunkelste Regionen. Und die den Blick anziehen, ob man es will oder nicht.
Vor ein paar Monaten ist wieder ein solcher Tag vorbeigegangen, der 27. Januar: Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee 1945. Politik und Verbände haben die Abgründe unter unseren Füßen mühsam mit gutgemeinten, ewig gleichen Worten zugedeckt; aber die Vergangenheit will nicht zur Ruhe kommen. Ein neuer Monat, ein neues Datum unter so vielen, die erinnerungswürdig sind: 13. Februar 1945, Beginn des alliierten Flächenbombardements von Dresden. Tod, Zerstörung, schwarzrot brennende Nächte. Eingebettet und untrennbar verbunden mit noch mehr Tod, noch mehr Vernichtung.

Wie gehen wir mit diesen Daten um? Und wie erlauben wir anderen, damit umzugehen?

Unter dem Motto “erinnern und handeln” ruft die Stadt Dresden 2010 zu einer Menschenkette auf. Diese Menschenkette soll  u.a. “vor dem Eindringen Rechtsextremer schützen” (Zitat Website der Stadt zum 13. Februar). Schutzbedürftig fühlt sich die Stadt wegen des alljährlichen “Trauermarschs” zum selben Datum, veranstaltet heuer von der “Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland”, die der sog. “rechten Szene” zuzuordnen ist. Den Betreibern von “Dresden nazifrei” wiederum reicht eine Menschenkette nicht aus; diese Vereinigung plant Massenblockaden gegen die Veranstaltung der JLO. Die Dresdner Staatsanwaltschaft sieht in den Aufrufen zu diesen Massenblockaden potentiell strafbare Handlungen nach § 111 StGB, und zwar vor allem wegen des Versammlungsgesetzes:

§ 21 SächsVersG (in Kraft seit 26. Januar 2010)
Wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

 Das Gesetz enthält daneben, wie auch z.B. das bayerische Versammlungsgesetz, die Möglichkeit, Aufmärsche zu bestimmten historischen Daten an besonders geschützten Orten generell zu untersagen. Das Versammlungsrecht ist erst mit der Föderalismusreform zur Ländersache geworden, insofern sind derartige Regelungen noch relatives Neuland und rechtlich nicht unproblematisch (Google-Empfehlung: Bayern-Versammlungsgesetz-BVerfG; interessant und vergnüglich auch die Feststellungen von Prof. Rozek - Uni Leipzig - zur fehlenden Zuständigkeitsregelung im SächsVersG sowie die darauffolgende Nachbesserung des Gesetzes). Denn wie steht es demgegenüber mit der Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG?
Also: Alle erinnern, marschieren, demonstrieren lassen, ohne Ansehen der dahinter stehenden politischen Ausrichtung? Oder alles verbieten? Alles erlauben, aber zu Gegenveranstaltungen aufrufen? Die Gegenveranstaltungen verbieten?Gibt es überhaupt eine "richtige" und / oder eine "rechtmäßige" Art des Umgangs mit solchen Daten? Oder gibt es am Ende nur das, was in den Köpfen der Menschen ist und was sich durch Recht von außen weder in die eine noch in die andere Richtung beeinflussen lässt?