“Es geht”, sagte im November vergangenen Jahres CDU-Generalsekretär Gröhe in Karlsruhe, “um die unantastbare Würde jedes Menschen. Wo es um ihren Schutz geht, sind wir gefordert” (Quelle: www.zeit.de).
Stilistisch vielleicht nicht unbedingt unantastbar, inhaltlich aber jedenfalls höchst bedeutsam - die Menschenwürde, wieder einmal, die zur Debatte steht, aktuell bei der Frage um die Möglichkeiten der Gendiagnostik bei in vitro erzeugten Embryonen. Die Menschenwürde, die ewige Verdächtige bei einer Vielzahl von schwierigen Rechtsfragen; die leicht Anzukratzende und gleichzeitig heil und hehr über allem Schwebende, die “nicht interpretierte These” ohne Beweismöglichkeit; der sanft leuchtende, ungreifbare Schimmer der Humanität hinter den scharfen Normenzacken. Was verheißt sie uns nicht alles! Einen letztgültigen, universal anwendbaren Bewertungsmaßstab für die ganz großen Rechtsprobleme, eine unverrückbare Verteidigungslinie gegenüber dem machtgierigen Staatsapparat - eine gemeinsame, von allen Menschen irgendwo tief drinnen empfundene ethische Richtschnur, an der wir uns in schlimmen Zeiten alle ausrichten können. Wie gut könnten wir sein! Wenn wir sie nur endlich verstünden.
Wenn wir nur endlich herausfinden könnten, was sie uns bedeuten will, diese seltsame Konstruktion, die zwischen allen Stühlen zu sitzen scheint und dennoch überall den Fuß in der Tür hat - in Philosophie, Recht, Biologie, Soziologie, Politikwissenschaft. Die in sich alles verbindet, verknotet, und dabei ein so eigentümlich formloses Äußeres angenommen hat, dass wir sie nur noch im Negativen, in ihrer Verletzung, erfassen können. Nun soll sie also darüber entscheiden, wie mit künstlich erzeugten Embryonen zu verfahren ist. Ob wir diesmal verstehen werden, was sie uns zu diesem Thema sagen will?
Eine eigenartige Konstellation, die sie uns hier zu präsentieren scheint, jedenfalls aus der Sicht einiger Diskuttanten: Eltern gegen (werdendes) Kind. Das Leid, ein vielleicht schwerst behindertes Kind zu bekommen und großziehen zu müssen, gegen das Nichtgeborenwerden, das Ausgesondertsein, Weggeworfenwerden. Oder spielt sich der Konflikt im entstehenden Wesen selbst ab? Ein Recht, nicht bewusst mit schwersten Schädigungen in ein Leben voller Qualen gezwungen zu werden, gegen ein Recht, geboren zu werden, zu wachsen, zu lernen, zu lieben, zu träumen …? Oder ist alles noch viel komplizierter?
Für uns Deutsche allemal. Denn es spielt ein Wort in dieser Diskussion eine bedeutende Rolle, das wir fürchten und meiden gelernt haben: Selektion. Dieses Wort trieft von Gift, stinkt nach Rauch. Zieht die entsetzlichsten Assoziationen nach sich, die tödliche Idee vom “lebensunwerten Leben”, die sich hier vielleicht wieder einmal nur zum Schein in humanitäre Gewänder gehüllt hat. Wir halten die Menschenwürde hoch wie einen Schutzschild dagegen, führen sie wie eine abwehrstärkende Medizin im Munde. Und zwar auf der einen wie auf der anderen Seite der Diskussion.
Wird sie uns retten? Nein - und ja. Die bloße Argumentation mit der Menschenwürde lässt sich in viele Richtungen wenden. Da wir ihren genauen Inhalt nicht kennen, kann sie sowohl “für” als auch “gegen” als auch alles Mögliche dazwischen bedeuten; immer ganz nach Standpunkt. Sie wird uns nicht davor bewahren, Entscheidungen treffen zu müssen. Entscheidungen, für die der Mensch, scheint mir, nicht wirklich ausgelegt ist. Die aber trotzdem getroffen werden müssen, denn: Wir wissen zu viel. Und dieses Wissen lässt uns nicht mehr in seeliger, gottergebener, mittelalterlicher Ruhe. Wir werden uns auch durch diese Diskussion hindurchquälen müssen, ohne Richtschnur, ohne Leitfaden; denn den Leitfaden entwickeln wir ja erst selbst, immer wieder, immer weiter, auf genau diesem Weg. Und das ist es vielleicht auch, was die Menschenwürde für uns tun kann: Sie kann dafür sorgen, dass wir diesen Weg beschreiten. Dass wir nicht ausweichen, uns ins Dickicht schlagen, die Augen verschließen. Dass wir sie aushalten, die Ungewissheit, die Zweifel, die Furcht. Dass wir weiter gehen, immer weiter. Ohne auch nur zu ahnen, was uns am Ende erwartet - ob es überhaupt ein Ende gibt.
Reicht das aus? Es muss. Denn mehr stellt sie uns im Grunde nicht an Hilfe zur Verfügung. Und mehr verspricht sie auch nicht. Die Menschenwürde ist, was wir zur Menschenwürde machen. Und auch das muss man aushalten können.