Donnerstag, 16. Juni 2011

Das Regenwurm-Dilemma. Tücken der Ethik im Hausgebrauch

Eigentlich ist alles ganz einfach - in der Werbung wenigstens. Da windet sich in einem Spot ein Regenwurm auf einem Bürgersteig zwischen unachtsamen Menschenbeinen, während der Regen hinunter strömt und der arme Wurm, ganz im Gegensatz zu seinem Namen, nicht glücklich herumschwimmt, sondern mangels Flossen verzweifelt gegen das Ertrinken ankämpft. Nur ein einziges Menschenwesen, ein kleiner Junge im gelben Südwester, sieht seine Pein, nimmt ihn behutsam in die Hand und setzt ihn im Gras ab, wo er glücklich zwischen den Halmen verschwindet. So simpel, suggeriert uns der Spot, ist angewandte Ethik: Ein Mit-Wesen leidet, man kümmert sich. Die vorbeihastenden Erwachsenen, auf Karriere und persönliches Vorwärtskommen bedacht, haben diesen einfachen Grundsatz vergessen; nur das unschuldige Kind tut ohne Nachdenken das Richtige und rettet den ebenso unschuldigen Wurm.

Simpel, in der Tat.  Vielleicht ein wenig zu simpel.

Die Verfasserin kennt einige Kinder im ähnlichen Alter; sie ist sogar selbst mal eines gewesen. Damals, so berichten die Familienlegenden, war es ihr Schönstes, eben solche Regenwürmer aufzusammeln und sie - die virtuelle Feder sträubt sich, es niederzuschreiben - anzusabbern oder gar aufzuessen. Von unschuldiger, sozusagen angeborener “Naturethik” leider keine Spur. Ein Verständnis des Kindes als grundlegend gutes, moralisch einwandfreies Wesen scheitert darüber hinaus an all den fliegenbeine-ausreißenden, sich-gegenseitig-mit-bauklötzen-schlagenden, flunkernden und schubbsenden Anschauungsobjekten, die durch die Kindergartenlande tollen. Unschuldig sind sie, ja; aber nur deshalb, weil sie es nicht besser wissen.

Der Erwachsene weiß es besser. Leider. Und weil er es besser weiß, kommt er bei dem Versuch der unbefangenen Anwendung von ethischen Grundsätzen in das, was hier als das “Regenwurm-Dilemma” bezeichnet werden soll. Um im obigen Bild des Werbespots zu bleiben: Gesetzt den Fall, man entdeckte tatsächlich zwischen geschäftigen Beinen einen solchen armen ertrinkenden Wurm. Was denkt man als erstes? “Der arme Wurm”? Oder vielleicht doch eher “Meine Güte, wie eklig …”? Die Gemeinsamkeiten zwischen Würmern und Menschen sind, zumindest von Menschenwarte aus, praktisch verschwindend gering. Ja, wenn es ein niedliches Kätzchen wäre, was da nass und frierend auf dem Gehsteig hockte … Aber nein, es ist ein Wurm, ein glibbschiger, sich windender Wurm ohne weiches Fell und große Kulleraugen (irgendwie sogar ganz ohne Augen, wie es aussieht). Und nun soll man für diesen Wurm, der womöglich nicht einmal Schmerzen empfinden kann, sich in den Regen knien? Vorher wohl noch nach einem passenden Blatt oder Taschentuch suchen, damit man ihn nicht anfassen muss? Tausend verwundert-amüsierte Blicke im Nacken brennen fühlen, während man im Business-Kostüm auf dem Bürgersteig herumkraucht? Ziemlich viel verlangt an einem verregneten Montagmorgen …

Aber in der Wirklichkeit kommt es noch schlimmer; es kommt immer schlimmer in der Wirklichkeit. In der Wirklichkeit liegen nach einem heftigen Regenguss Dutzende, nein, Hunderte verzweifelte Regenwürmer auf den Wegen. Regenwürmer, die entweder im Wasser ertrinken oder nachher, wenn die Sonne rauskommt, verglühen, zertreten werden, von Amseln in Stücke gerissen, weil sie es nicht rechtzeitig zurück ins Gras schaffen. Soll man sie ALLE retten?! Den ganzen Weg zwischen, sagen wir, der Uni-Bibliothek und dem Hörsaal auf den Knien rutschend zurücklegen? Oder reicht es, wenn man einen rettet, sozusagen pro forma, als Ausweis der guten Menschlichkeit? Oder nur die, die noch “eine Chance haben” (woran auch immer man das bei Regenwürmern festmachen will)? Oder gerade die schon Todmüden, Geschwächten? Gibt es einen Mittelweg oder eine Art höhere Prozentrechnung, wie: Pro gerettetem Wurm steigt der eigene ethische Wert um soundsoviel Punkte? Wem gegenüber eigentlich? Mir selbst? Oder der Gesellschaft oder dem, der vielleicht in den Wolken verborgen darüber thront? Oder interessiert es letztlich nur einen - den Wurm? Den, der gerettet wird. Oder den, der liegen bleibt.

Es gibt immer welche, die liegen bleiben. Nicht nur Würmer. Und nicht nur niedliche Kätzchen.  Ganz gleich, wie weit ich meinen persönlichen Verantwortlichkeits-Radius ausdehne. Ganz gleich, wie lange ich auf Knien durch den Regen rutsche. Darf ich da nicht abwägen, wenigstens ein kleines bisschen? Zum Beispiel … meinen Peinlichkeitsfaktor gegen den Lebenswert eines halb zertretenen Regenwurms? Oder darf ich nicht? Muss ich mein ganzes Leben damit verbringen, über den bildlichen Bürgersteig zu krauchen? Oder reicht es, wenn ich leise “arme Würmer” vor mich hinmurmele? Oder - darf ich vielleicht sogar einfach mal wegsehen?
Ich kann ein “guter”, ein sich ethisch verhaltender, beinahe schon vorbildhafter Mensch sein, wenn ich mich um alle Regenwürmer dieser Welt kümmere. Aber kann ich dann noch “ich” sein? Wann hätte ich dann noch die Zeit dafür?

Und übrigens - wer kümmert sich eigentlich um mich, wenn ich am Ertrinken bin?

Das kommt darauf an, sagt der Jurist. Zum Beispiel darauf, ob du ein Regenwurm bist. Und ob der, der dich ertrinken sieht, Regenwürmer mag. Oder auch nicht …